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AutorenbildMINDFULNESS-HEIDELBERG

Wie Achtsamkeit Schülern und Lehrern helfen könnte

Achtsamkeit hilft, besser mit Stress und Konflikten umzugehen. Davon können auch Kinder und Lehrer im Schulalltag profitieren.

Es dauert eine Weile, bis die Schüler sich darauf einlassen: nach sieben Stunden Unterricht im Klassenraum einen Kopfstand zu machen. Über Gefühle zu reden, statt Zahlenreihen zu addieren. Nach einem langen Schultag die Augen zu schließen und sich einen Tag am Meer vorzustellen. Das kommt vielen Schülern fremd vor. „Aber dann ist es immer wieder faszinierend zu sehen, wie aus wahlweise müden oder völlig überdrehten kleinen Wesen produktive und kreative Mitdenkende werden“, sagt Julia Weiss.


Seit zwei Jahren bietet die Berlinerin an einer Privatschule „Mindfulness for kids“-Kurse an. „Mindfulness“ heißt übersetzt Achtsamkeit und ist ein Thema, das nicht nur in Mode ist, sondern auch vielen Menschen hilft, mit Stresssituationen und Konflikten besser umzugehen. Doch die meisten besuchen diese Kurse erst als Erwachsene, wenn sie an einem Punkt in ihrem Leben sind, an dem sie nicht mehr weiterkommen.


Julia Weiss erlebt fast täglich, wie schwer es den meisten Erwachsenen fällt, ihre Gefühle nicht nur zu äußern, sondern sie überhaupt erst einmal zu erkennen. Sie berät und coacht seit Jahren Führungskräfte und deren Organisationen in Phasen des Wachstums und der Veränderung. Viele, auch beruflich erfolgreiche Menschen, hätten mit Störungen zu kämpfen, die noch aus der Kindheit resultierten, sagt Weiss. „Sie spüren sich nicht, haben kein Vertrauen in sich oder andere, handeln nach alten Mustern, die sie als Kind mit auf den Weg bekommen haben.“ Ein Weg, um das zu verhindern, sei es, schon als Kind zu erkennen, dass es nicht gut ist, seine Gefühle wegzudrücken. Stattdessen sollte man sie wahrnehmen und benennen, um sie dann in gute Handlungsimpulse umzusetzen.


Achtsamkeit für Schüler

In der Schule lernt man viel. Rechnen und Schreiben, fremde Sprachen, Physik und Chemie. Es geht außer beim Sportunterricht aber fast ausschließlich um kognitive Fähigkeiten, also die Verarbeitung von Informationen. Man könnte auch sagen, dass in einem vollgepackten Lehrplan über viele Stunden am Tag Wissen in die Köpfe der Kinder getrichtert wird, ohne einmal zu fragen, wie es ihnen sonst geht. Aber lernt es sich gut, wenn man Bauchweh hat, weil man die Aufgaben nicht richtig versteht? Oder sich in der Pause mit dem besten Freund gestritten hat? Oder Angst vor der nächsten Arbeit hat? Könnten Schüler nicht auch von Achtsamkeitsübungen profitieren?


Weiss startet jeden Kurs damit, dass Regeln erarbeitet werden. „Wir stellen uns gemeinsam die Frage: Was brauchen wir, damit es ein guter Kurs wird? Wie wollen wir miteinander sprechen und arbeiten?“ Eine wichtige Voraussetzung sei, dass die Kinder wissen: „Hier kann jeder so sein, wie er ist, und es gibt dennoch verbindliche gemeinsame Regeln, die Orientierung geben und Vertrauen stiften.“ Im Kurs gibt es verschiedene Module: Wie kann ich mit Druck umgehen? Wie kann ich Konflikte lösen? Was für Träume habe ich? Tue ich schon etwas, um sie zu erreichen? Wie gehe ich mit Ängsten um?


Kinder sollen in eine Selbstreflexion kommen. Da reicht schon die Frage. Wie ist das Wetter heute bei dir? Scheint die Sonne, gibt es Wolken oder gar Unwetter? Auf einer Energieskala von eins bis zehn – wo steht dein Energielevel heute? Und schon kommt man ins Gespräch.


Es gehe darum, aus angst- und druck-besetzten Haltungen herauszufinden, sagt Weiss, „indem wir uns bewusst werden, dass wir eine Wahl haben, in welcher Haltung wir den Herausforderungen begegnen: klein, ohnmächtig, ängstlich und trotzig – oder mutig, neugierig und mit Freude an der Erfahrung“. Im Kurs, zu dem auch ein Workbook gehört, mit dem Kinder zu Hause weiter üben können, werden den Ängsten Farben gegeben, und die Kinder versuchen nachzuspüren, wo im Körper sie sich bemerkbar machen. Was Druck bedeutet, wird mithilfe eines Luftballons verdeutlicht. Die Kinder sollen sich fragen, in welchen Situationen sie auch das Gefühl haben, so viel Druck zu verspüren, dass sie Luft ablassen müssen.


„Ich kann kein Mathe“

Wie sehr für viele Kinder die Schule mit dem Thema Angst besetzt ist, weiß auch Ann-Marie Backmann. Sie ist Lehrerin an einer Gesamtschule in Mönchengladbach. Viele Kinder kämen mit negativen Glaubenssätzen in ihre fünften Klassen, die sie in der Grundschule verinnerlicht haben. Dazu gehört beispielsweise: „Ich kann kein Mathe“ oder „Ich bin zu dumm für Mathe“. Wenn das so ist, spricht sie mit den Kindern darüber, woher diese Einschätzung kommt. Und ob diese sich nicht ändern ließe, wenn man eine andere „Mathebrille“ aufsetzt und sich sagt: Ich kann Mathe!


Damit Schüler mit der Angst vor Klassenarbeiten besser umgehen können, macht sie mit ihnen Übungen. Zum Beispiel Assoziationsketten, bei denen der Endbuchstabe des ersten Wortes der Anfangsbuchstabe des zweiten ist: Tür – riesig – gelb – Blume. Ein Kind startet die Kette, der Sitznachbar fährt fort. Irgendwann können es die Kinder im Stillen und machen es vor der Arbeit, damit bei aufkommender Angst dem Gehirn eine Pause verschafft werden kann. So kann man einem Blackout entgegenwirken. „Egal, wie sich das nennt, ob Achtsamkeit oder Empathie, es geht darum, in Beziehung zu gehen, im Kontakt zu sein“, sagt Backmann. „Die Kinder fühlen sich als Menschen gesehen. Nicht mehr nur in der Rolle des Schülers, der permanent Leistung erbringen soll.“


Viele würden mit achtsamen Übungen und dem Reden über ihre Gefühle zunehmend an Selbstvertrauen gewinnen und lernten mit der Zeit auch erfolgreicher. Auch die Stimmung in der Klasse verbessere sich deutlich, sagt Backmann, weil die Kinder selbst Konflikte lösen könnten. Wenn es um Meinungsverschiedenheiten gehe, kämen sie schneller zum Kern.


Dass Achtsamkeit nicht mehr nur als Esoterik-Gerede belächelt wird, zeigt sich schon daran, dass Krankenkassen zertifizierte Kurse in MBSR („Mindfulness Based Stress Reduction“) für Erwachsene bezuschussen, weil sie zur Stressbewältigung beitragen. Ein Konzern wie die Mercedes-Benz Group AG leistet sich einen Achtsamkeitsmanager, der neue achtsamkeitsbasierte Ansätze der Organisations- und Personalentwicklung in unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens erprobt, von der Produktion bis hin in die Konzernzentrale.


„Wir wünschen uns, dass daraus eine Kulturtechnik wird“


Dass sich zunehmend auch Lehrer für Achtsamkeit interessieren, bestätigt Agnes Kick, Geschäftsführerin des Vereins AKiJu, der die Vermittlung von Achtsamkeit an Kinder und Jugendliche fördert. Für ein Pilotprojekt, das Teil des Aktionsprogramms „Aufholen nach Corona“ der Bundesregierung ist, wurde das AKiJu-Curriculum entwickelt, an dem 2022 in ganz Deutschland mehr als 1100 pädagogische Fachkräfte teilnahmen. In einem 16-stündigen Achtsamkeitstraining erlernen die Teilnehmer darin Maßnahmen zur Selbstfürsorge und Stressreduktion für sich selbst und werden zudem darin geschult, Achtsamkeitsübungen für Kinder und Jugendliche anzuleiten. „Das Training hat einen niedrigschwelligen Ansatz“, sagt Kick, „die Pädagogen können von der ersten Stunde an mit den Kindern Übungen machen.“ 79 Prozent der Teilnehmer sagten später in einer Befragung, dass sie die Übungen aus dem Kurs in ihrer pädagogischen Arbeit umsetzen konnten, und 86 Prozent, dass der Kurs eine positive Wirkung auf sie gehabt habe. „Wenn Kinder von Anfang an lernen, mit Stress umzugehen, können sie dem Leistungsdruck besser begegnen“, glaubt Kick. „Wir wünschen uns, dass daraus eine Kulturtechnik wird, die zu dem Leben dazugehört.“



So weit ist es aber noch lange nicht, wenngleich es viele Einzelinitiativen gibt. In Hamburg beispielsweise können sich seit 2014 Lehrkräfte aller Schulformen in vom Land geförderten Seminaren zum Thema Achtsamkeit schulen lassen. In Bayern werden Themenwochen dazu angeboten, und an der Universität Lüneburg ist Achtsamkeit Teil der Ausbildung der Grundschullehrer. Zudem gibt es an vielen Schulen Lehrer wie Ann-Marie Backmann, die sich in Eigeninitiative weiterbilden, weil sie für sich selbst gemerkt haben, dass der Schulalltag so besser zu bewältigen ist.



Nachdem vorletzte Woche das Beratergremium der Kultusministerkonferenz SWK zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel vorgeschlagen hatte, mehr Angebote zur Gesundheitsvorsorge bei Lehrkräften zu schaffen, darunter auch Achtsamkeitstraining, regt sich aber auch Kritik. „Achtsamkeitstrainings müssen ein Grundangebot für Lehrkräfte werden, das ihnen Selbstfürsorge und Resilienzaufbau ermöglicht. Allerdings lassen sich damit ständige Überbelastung oder hinderliche Strukturen nicht mal eben kompensieren“, sagt Martina Aßmann vom Vorstand des MBSR-MBCT Verbandes. „Als Notfallpflaster funktioniert Achtsamkeit nicht. Mitarbeitenden sollte dafür langfristig und ganz selbstverständlich Zeit und Raum eingeräumt werden. Idealerweise bereits als Präventivmaßnahme in der Ausbildung. Das wäre auch ein Anreiz, junge Menschen für den Lehrberuf zu gewinnen.“



Umso wichtiger könnte es sein, dass bereits Kinder Elemente der Achtsamkeit lernen. „Achtsamkeit führt zu Resilienz: den Widrigkeiten des Lebens so zu begegnen, dass man sie meistern kann, sie einen nicht krank machen“, sagt Julia Weiss. Und sie bildet Fähigkeiten aus, die möglicherweise in Zukunft in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. Galt es früher als gut, sich mit seinen Ellenbogen durchzusetzen und andere beiseitezuschieben, um ans Ziel zu kommen, setzt sich zunehmend die Einstellung durch, dass man als Team und einander wertschätzend bessere Leistungen bringen und Konflikte besser lösen kann. Vielleicht wird dann auch eines Tages das berühmte Zitat des Dalai Lama wahr: „Wenn wir jedem achtjährigen Kind Meditation beibringen würden, könnten wir die Gewalt in der Welt innerhalb von einer Generation beenden.“




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