Achtsamkeit im Pflegealltag
Für Pflegekräfte ist der Alltag oft eine einzige Rennstrecke. Die Selbstfürsorge wird da vernachlässigt. Dabei können schon kleine Übungen in alltäglichen Situationen helfen, den Stress besser zu bewältigen. Achtsamkeit findet so auch dort ihren Platz, wo vermeintlich keine Zeit dafür ist.

„Ich lief und lief in einem Hamsterrad“, blickt Sandra Greif-Schill aus Heidelberg zurück. „Alles, was ich machte, musste schnell gemacht werden.“ Neben ihrem Beruf als examinierte Krankenschwester am Universitätsklinikum Heidelberg waren ihre beiden Söhne noch klein – der Alltag ließ ihr kaum Raum zum Durchatmen. Es war 2005, als eine Kollegin sie zu einem MBSR-Kurs in der Klinik einlud (MBSR: mindfulness-based stress reduction; achtsamkeitsbasierte Stressreduktion). Acht Wochen mit Übungen und persönlichen Treffen folgten, „dann hat es bei mir Klick gemacht“. Der Klick hat ihren, wie Sandra Greif-Schill sagt, „Autopiloten“ sichtbar gemacht, der sie durch den Alltag gesteuert hatte. „Vom Tun-Modus konnte ich nun in meinen Sein-Modus wechseln, mich selbst wahrnehmen und bewusste Entscheidungen treffen.“
Das Hamsterrad kennt wohl jede Pflegefachkraft, ob in der Kranken- oder Altenpflege. Am Institut für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung (IGVF) der Universität Witten/Herdecke befasst sich ein Team aus wissenschaftlicher Sicht mit Achtsamkeit und Stressprävention. „Fachkräftemangel, Bürokratie, physische und psychische Belastung führen zu einem hohen Stressniveau bei Pflegekräften. Die Auswirkungen von chronischem Stress sind häufig gravierend: körperliche und psychische Beschwerden wie chronische Müdigkeit, Angstzustände und Depressionen“, fassen die Psychologin Jil Herker und die Sozialwissenschaftlerin Jule Kobs vom IGVF die Fakten zusammen.
Momente für Achtsamkeit
Auf englischen Teetassen steht der schöne Spruch: The time to relax is when you don’t have the time for it. (Es ist Zeit zum Entspannen, wenn du keine Zeit dafür hast.) Nach dieser Maxime findet Krankenschwester Sandra Greif-Schill im alltäglichen Arbeitsumfeld ihre Achtsamkeitsmomente. „Das kann beispielsweise sein, wenn ich jemanden begleite. Das geht Schritt für Schritt, langsam, ich kann mich da selbst wahrnehmen, ganz im Moment sein, nicht vorher, nicht später, sondern genau jetzt.“ Psychologin Jil Herker bestätigt dies aus ihrer Forscherperspektive: „Achtsamkeit ist im Pflegealltag besonders praktikabel, da man sie jederzeit, überall, unauffällig und ohne großen Aufwand umsetzen kann, beispielsweise in Form von Atemübungen, achtsamem Gehen oder Hinhören.“
Pflegekräfte, die sich intensiver mit Stressbewältigung auseinandersetzen wollen, können entsprechende Kurse und Programme absolvieren. Für MBSR beispielsweise gibt es zahlreiche Angebote, auch solche für Berufstätige im Gesundheitswesen. Sie umfassen leicht in den Alltag integrierbare Übungen wie Yoga, Bodyscan oder ein fokussiertes Wahrnehmen des eigenen Körpers.
Die Haltung der Vorgesetzten ist wichtig
Idealerweise unterstützen Arbeitgeber das. „Die Haltung der Geschäftsleitung und der direkten Führungskraft ist sehr entscheidend für die Anerkennung und Durchführung solcher Angebote“, sagt Jule Kobs. „Wir führen mit großen Krankenkassen Projekte durch, auch hier wächst die Bereitschaft, präventive Angebote zu fördern. Wünschenswert wäre überdies die Vermittlung von stresspräventiven Maßnahmen bereits in der Ausbildung.“
Letztlich profitieren auch die Einrichtungen davon. „Berufsbedingter Stress kann das Mitgefühl für Patienten reduzieren, die Fehlerquote sowie emotionale Erschöpfung erhöhen und sich somit negativ auf die Qualität der Pflege auswirken“, erläutert die Sozialwissenschaftlerin, „zudem sinkt die allgemeine Arbeitszufriedenheit, was nicht selten zu einer höheren Fluktuation im Pflegepersonal führt. Personalausfall aber erhöht zusätzlich den Druck auf die verbleibenden Teammitglieder.“ Die Folgen von dauernder Überlastung in Krankenhäusern und Pflegeheimen sind bekannt. „Und auch die Patienten leiden unter den negativen Auswirkungen von Stress, da die Qualität der stationären Pflege beeinträchtigt wird und sich Stress auf andere Personen übertragen kann“, ergänzt Jil Herker.
Die eigenen Grenzen schützen
Gleichwohl soll ein strukturierter Umgang mit Belastungen am Arbeitsplatz nicht als Optimierungsmaßnahme missverstanden werden, mahnen Jil Herker und Jule Kobs. „Das Gesundheitswesen muss sich unabhängig von individuellen Bewältigungsstrategien verändern und sollte die Gesundheitsförderung der Beschäftigten in den Blick nehmen. Eine regelmäßige Übungspraxis kann dennoch auf der individuellen Ebene helfen, die eigenen Grenzen besser wahrzunehmen.“
Sandra Greif-Schill hat dies für sich gelernt und gibt ihre Erfahrungen seit 2016 auch in Achtsamkeitsgruppen in der Klinik weiter. Mit ihrer langjährigen Erfahrung und ihren Zusatzqualifikationen wie einer drei-jährigen systemischen Ausbildung am Helm Stierlin Institut (HSI) in Heidelberg und an der Akademie für Psychotherapie in Speyer, Achtsamkeitsausbildung (MBSR am Institut für Achtsamkeit, MBCT am Achtsamkeitsinstitut Ruhr) hat sie sich entsprechend weitergebildet. Ihr Hauptinteresse gilt der Integration von Achtsamkeit in der Klinik, sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Patienten. „Selbstfürsorge wird zu oft zur Nebensache“, resümiert sie, „doch diese eine Minute Achtsamkeit, die man sich nimmt, verändert die ganze Situation. Das erhält die Zufriedenheit mit dem Beruf.“
Hier und jetzt im Alltag: kleine Achtsamkeitsübungen
Achtsamkeit? Dafür habe ich nicht auch noch Zeit! – Doch. Auch im stressigsten Alltag gibt es kleine Momente, in denen Sie sich in die Gegenwart zurückholen können. Hier ein paar Situationen, die Sie für Ihre Achtsamkeitsübung nutzen können:
Innehalten vor dem Betreten eines Patientenzimmers
Begleiten eines Patienten zu einer Untersuchung
Am Telefon warten, bis jemand abnimmt
Die Hände waschen
Die Arbeitskleidung anziehen
Innehalten vor dem Beginn von Besprechungen, Schichtwechsel, Übergaben
Zentral ist stets, dass Sie nicht dem Vergangenen hinterherhängen und nicht bereits zum erst noch Kommenden vorwegeilen. Was wichtig ist, ist die Gegenwart, der konkrete Moment, in dem Sie sich jetzt gerade befinden.
Nehmen Sie einfach nur wahr, wie Sie sich fühlen: Sind Sie abgehetzt? Abgelenkt? Ausgeglichen? Unsicher? Gelassen? Besorgt? Angespannt?
Wo sind Ihre Gedanken – hier? Oder noch bei dem, was kurz vorher war, oder bei dem, was als Nächstes kommt?
Welche Ihrer Sinne werden gerade jetzt angesprochen? Was hören Sie, sehen Sie, spüren Sie, riechen Sie?
Schenken Sie sich selbst solche Momente der Wachheit und Aufmerksamkeit, damit Sie Ihren Autopiloten-Modus bemerken können.
Zwei Programme für den Abbau von Stress
Das wohl bekannteste Programm zum Abbau von Stress und Stressfolgen ist MBSR: mindfulness-based stress reduction (achtsamkeitsbasierte Stressreduktion). Dieses in den 1970er-Jahren von Jon Kabat-Zinn entwickelte Konzept ist eine nicht spirituelle Geistesübung, die in einem achtwöchigen Programm vermittelt wird und anschließend sowohl eigenständig geübt als auch in weiteren Kursen vertieft werden kann. Weitere Infos: www.mbsr-verband.de oder www.achtsamkeitsinstitut-ruhr.de
Das BERN-Konzept ist ein von Professor Dr. Tobias Esch an der Universität Witten/Herdecke entwickeltes Programm zur Gesundheitsförderung und Stressbewältigung. Das Akronym steht für Verhalten (Behavior), Bewegung (Exercise), Entspannung (Relaxation) und Ernährung (Nutrition). In einem achtwöchigen Kurs können Patienten der Universitätsambulanz für Integrative Gesundheitsversorgung und Naturheilkunde gesundheitsförderliche Kompetenzen erlernen. Am IGVF wird der Kurs für verschiedene Settings und Zielgruppen wissenschaftlich begleitet. Weitere Infos: www.uniambulanz-witten.de/gesundheit-nachhaltig-staerken/
Erscheinungszeitpunkt: Dezember 2024
Bildquelle: Coloplast
Redaktion: mk Medienmanufaktur GmbH

MINDFULNESS-HEIDELBERG
Sandra Greif-Schill
Praxis für Systemisches Coaching und Achtsamkeit
systemisch | achtsam